Bade, Klaus J.; Emmer, Pieter C.; Lucassen, Leo; Oltmer Jochen (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. . Paderborn 2007 : Wilhelm Fink Verlag, ISBN 3770541332 1156 S.

Bahlcke, Joachim; Bendel, Rainer (Hrsg.): Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive. Köln 2008 : Böhlau Verlag, ISBN 3412203092 258 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Schulte-Umberg, Institut für Europäische Geschichte

Die mehr als tausend Seiten umfassende «Enzyklopädie in Europa» ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil werden in zwei längeren Essays «Idee – Konzept – Realisierung» der Enzyklopädie sowie «Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung» (19–53) dargelegt. Damit ist die Grundlage für die beiden folgenden Teile gelegt. Diese bestehen aus Überblicksdarstellungen über die Wanderungsgeschichte der einzelnen europäischen Länder (54–358), die wiederum in sieben regionale Bereiche zusammengefasst sind. Dem schliesst sich dann die eigentliche Enzyklopädie in Form von Artikeln an, die spezifische Migrantengruppen darstellen. Am Anfang steht der Artikel «Ägyptische ‹Sanspapiers› in Paris seit den 1980er Jahren» von Detlef Müller-Mahn (359–362), am Ende der Artikel über «Zyprioten in Grossbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges» von Panikos Panayi (1125–1127). Die Lektüre der Artikel kann durchaus Lesevergnügen bereiten. So der Rezensent dies anhand einzelner Artikel beurteilen kann, bieten sie die für den jeweiligen Gegenstand wichtigen Aspekte und führen die wichtigste Literatur an.

Mit Blick auf das Themenfeld Religion und Migration dürften die beiden Essays des ersten Teils besondere Aufmerksamkeit verdienen. Dort werden die seit den 1970er Jahren erzielten methodischen und systematisch-inhaltlichen Fortschritte in der europäischen und amerikanischen Forschung zusammengeführt und weiterentwickelt. Zentral ist in den vergangenen Jahrzehnten die Einsicht gewesen, Migrationsvorgänge als Teil von wechselseitigen Austauschprozessen zu verstehen. Es geht dann nicht um den Beitrag einzelner Migrantengruppen zur Gesellschaft und Kultur des Aufnahmelandes, die Selbstbehauptung dieser Gruppen oder Angleichungsprozesse nur in eine Richtung. Wenn Migration vielmehr als «ein umfassender Kultur- und Sozialprozess in und zwischen geographischen und sozialen Räumen» (21) verstanden wird, wird damit eben diese Einsicht aufgenommen. Durchaus in forschungspragmatischer Absicht lässt sich Migration in drei Dimensionen gliedern: die Wanderungsentscheidung mit ihren Begleitumständen und Hintergrün den; die durchaus vielgestaltigen Bewegungen zwischen den Wanderungsräumen; und schliesslich die Phase der «der ganz unterschiedlich geprägten und zeitlich dimensionierten Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft» (32).

Im «Vordergrund der Enzyklopädie» insgesamt wie der einleitenden Essays steht der dritte Punkt, die Frage nach der «Integration» der Migranten (21). Dies sollte jedoch nicht so geschehen, dass zu dem schon bereitstehenden Material weiteres hinzugefügt werden würde: «Leitaspekt ist vielmehr die konkrete historisch-empirische Frage, warum einzelne Zuwanderergruppen in bestimmten Aufnahmekontexten in dem in Selbst- und Fremdbildern überkommenen Zeiterlebnis und im kollektiven Gedächtnis auf beiden Seiten vergleichsweise lange als zugewanderte Minderheiten bzw. als Diaspora erkennbar blieben, während andere Zuwanderungen nur wenige bzw. historisch ‹kurze› oder gar keine Spuren hinterliessen.» (24–25) Der zweite Essay von Dirk Hoerder und Jan und Leo Lucassen stellt «Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung» (28–53) vor. Der Essay ist fundiert und erfreulich verständlich geschrieben, die im Vorwort der «Enzyklopädie» versprochene theoretische Diskussion von «pragmatischer und sicher auch menschenfreundlicher Mitte» (18) wird hier geliefert. Der Artikel bietet kompetent und kompakt Überblicke über die älteren Ansätze der Migrationsforschung, vor allem den Einfluss der Chicagoer Schule sowie den in den letzten Jahrzehnten entwickelten neuen Forschungsansätzen zu Migration und Akkulturation. Zugleich werden in dem Beitrag in knappen Strichen die Geschichte der europäischen Wanderungen skizziert und die unterschiedlichen Formen von Wanderungen dargestellt.

Die «Enzyklopädie Migration in Europa» setzt für die Migrationsforschung in Europa einen neuen Referenzrahmen. Hilfreich für ihre internationale Reichweite wäre dabei zweifellos das Erscheinen der angekündigten englischsprachigen Ausgabe. So oder so wird sie aber wohl nicht nur wissenschaftliche Massstäbe setzen und migrationspolitisch wirksam sein, sondern auch Anstösse für zahlreiche neue Forschungen geben.

Das könnte und sollte auch für das Themenfeld Religion und Migration gelten. Religion und religiöse Aspekte kommen in der «Enzyklopädie» keineswegs zu kurz, wie insbesondere anhand der Artikel über einzelne Migrantengruppen der frühen Neuzeit feststellbar ist. Mit Recht wird auch festgestellt, Religion sei im 19. und 20. Jahrhundert eher selten der Wanderungsgrund gewesen. Wenn jedoch das Hauptaugenmerk auf der wie auch immer gearteten Integration der Migranten liegt, könnte Religion auch dann noch ein Faktor gewesen sein, dem eine durchaus grosse Bedeutung zukommt. Zu fragen wäre nicht allein für einzelne Gruppen, sondern in systematisch-vergleichender Absicht wie und in welchem Masse bei Migrationsvorgängen Religion in Europa zum organisierenden Prinzip bei der Bildung von sozialen Zusammenhängen werden konnte, die den Zuwanderern die Verortung ermöglichten und ihre Eingliederung prägten. Solche Vergleichsmöglichkeiten wären ertragreich zu systematisieren. Mit Blick auf Spracherwerb, institutionelle Verortung, Generationenfolge, Schule, soziale Mobilität und Elitendiskurse sind allgemeine Kategorien vorhanden, die für die jeweilige Migrantengruppe im historischen Kontext zu beschreiben und zu analysieren wären. Ein solcher Ansatz könnte für die Migrationsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert insgesamt ertragreich sein.

Der von Joachim Bahlcke und Rainer Bendel herausgegebene Tagungsband «Migration und kirchliche Praxis» widmet sich vor allem Fragen der Integration von Migranten. Der Band enthält zwölf Beiträge, die für die 42. Arbeitstagung des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte im Juli 2004 entstanden oder für den vorliegenden Band verfasst wurden. Interesseleitender Gesichtspunkt des Tagungsbandes ist der «Zusammenhang von Migration und kirchlicher Praxis und das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive» (VII). Die enge Verflechtung von Kirche und Staat und die tiefe Verankerung der kirchlichen Praxis im Leben des Einzelnen, die Joachim Bahlcke und Rainer Bendel im Vorwort für den gesamten Beo bachtungszeitraum konstatieren, veranlassen sie, den alltagsgeschichtlichen Fokus um die Frage nach politischen Faktoren in Heimat- und Zielorten der Migranten zu ergänzen. Die chronologische Perspektive des Bandes umfasst mit dem Zeitraum vom 15. bis zum 19. Jahrhundert eine lange Frühe Neuzeit; geographisch sind mittel- und ostmitteleuropäische Gebiete berücksichtigt, wobei die meisten Territorien sowohl als Ziel- als auch als Herkunftsländer in Frage kommen. Die Migration der Schwenckfelder nach Pennsylvania erlaubt einen kurzen Blick nach Amerika. Die Beiträge des Bandes konzentrieren sich auf Migrantengruppen, die ihre Heimat auf Dauer verliessen; Einzelmigranten nimmt der Band gar nicht, zeitlich begrenzte Migration oder Remigration nur am Rande in den Blick.

Aus der Vielzahl der Beiträge seien hier einige hervorgehoben. Ein Beispiel für Religion bzw. die Vermeidung des religiösen Zwangs als Wanderungsmotiv führt Horst Weigelt am Beispiel der mehrstufigen Migration der schlesischen Schwenckfelder im 18. Jahrhundert nach Pennsylvania vor. Selbst eine mögliche Rückkehroption konnte die Bindekraft ihrer spezifischen Religiosität nicht mindern. Roland Gehrke zeichnet den Weg der niederländischen Mennoniten, einer pazifistischen Täufergruppe, im 16. Jahrhundert ins preussische Gebiet der polnischen Krone nach. Im Weichseldelta bildeten sie eine in Selbstisolation lebende «bäuerlich-plebejische Bekenntnisgruppe» (68). Ihre religiöse Praxis lieferte nicht nur den Migrationsgrund, sondern übte auch mehr als 200 Jahre lang eine intern Kultur stabilisierende Wirkung aus. Matthias Asche untersucht in seinem Beitrag bäuerliche Migrantengruppen, die zur Wiederbesiedlung der im Dreissigjährigen Krieg entvölkerten Mark Brandenburg ins Land gerufen worden waren und deren Integrationsprozess in nahezu vollständiger Anpassung an die preussischen Lebensverhältnisse endete. Unter den gezielt als reformierte Gruppen angeworbenen Migranten, Niederländern, Schweizerkolonisten und hugenottischen Réfugiés, spielten vor allem die privilegierten Réfugiés eine wichtige Rolle für den Prozess der Bauernbefreiung in Preussen. Am Beispiel protestantischer böhmischer Exilanten zeigt Matthias Noller, dass die alltägliche religiöse Kulturpraxis der Migranten ein wirksames Integrationshindernis darstellen konnte. Eingliederungsprobleme in bestehende Kirchentümer des Zielortes Berlin und Umfeld führt er daneben auf eine eigenständige Theologie der Migranten zurück, die er mit einem von Heinz Schilling entlehnten Begriff als «Exulantentheologie» (98) bezeichnet. Eine durchweg positive und normative religiöse Deutung der Migration führt Martin Rothkegel an der Täufergruppe der Hutterischen Brüder vor, die im 16. Jahrhundert aus wirtschaftlichen Gründen vom böhmischen Adel protegiert wurden. Rothkegel zeigt, wie der Fortbestand dieser Gruppe von einem stetigen Zuwachs an Mitgliedern und Kapital abhing, so dass sie auf umfangreiche missionarische Tätigkeiten angewiesen waren. Offen bleibt hier die Frage nach dem Zusammenhang von religiös motivierter Mobilität, deren theologischer Deutung und wirtschaftlichen Motiven.

Die genannten und weitere Beiträge zeigen für sich genommen ein zunächst disparates Bild, wie es vielleicht für alltagsgeschichtliche Studien, die einen längeren Zeitraum und unterschiedliche Regionen in den Blick nehmen, nicht überraschend ist. In toto lassen die Einzelstudien aber bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen den untersuchten Phänomenen erkennen lassen. Neben den in der Einleitung genannten politischen Faktoren zeigt sich deutlich, wie sehr Religion die Formen der Integration von Migranten prägte.

Zitierweise:
Thomas Schulte-Umberg: Rezension zu: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u.a., Ferdinand Schöningh, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 334-336.

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